Rund achtzehn Semester[1], vier Jahre länger als die veranschlagte Regelstudienzeit, benötigten Student*innen früher im Diplomstudium im Schnitt um dieses Spektrum abzudecken, in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Da anzunehmen ist, dass sich dieser Zeitraum nicht wesentlich verkürzt hat, wären Architekturstudierende damit auch heute noch unter den Spitzenreitern aller Studiengänge. Doch am Ende dieses ebenso langen wie abwechslungsreichen Zeitraums geschieht etwas ernüchterndes. Denn im Unterschied zu den meisten Ausbildungen endet das Architekturstudium zwar in einem Diplomingenieur- oder Master-Titel – aber ohne Anspruch auf eine Berufsbefugnis. So will es ein noch aus dem Mittelalter stammendes Kammersystem. Niemand, der ein knappes Jahrzehnt lang Architektur studiert hat, darf sich nach erfolgreichem Abschluss offiziell Architekt oder Architektin nennen. Im Gegenteil, es ist rechtlich verboten und wird bei Verstoß geahndet. Während man sich am Ende einer Zerspanungstechnik-Lehre also Zerspanungstechniker*in nennen darf und bei der Sponsion des Jus-Studiums Jurist*innen ihre Hüte in die Höhe werfen, weiß man am Ende des Architekturstudiums nicht, was man auf die Frage nach dem Beruf nun eigentlich antworten darf.
Denn nach dem Universitätsabschluss muss eine dreijährige Anstellung in einem Architekturbüro folgen, in der Hoffnung, dort für mindestens ein Jahr Baustellenaufsicht zugeteilt zu bekommen, um mit diesem Nachweis dann zu einer mehrteiligen Prüfung in den unterschiedlichsten Fächern antreten zu dürfen. Diese wird von der Kammer der Ziviltechniker*innen abgehalten, die praktischerweise zahlungspflichtige Kurse anbietet, die ohnehin nahezu unumgänglich sind. Danach und bei Zahlung der Kammerumlage – also nach mittlerweile ungefähr zwölf bis dreizehn Jahren – darf man sich Architekt oder Architektin nennen. Beruf kommt von Berufung und die wird also ganz offiziell den allermeisten Menschen mit abgeschlossenem Architekturstudium nicht zuerkannt.
Wie sind nun aber die Beiträge der Ziviltechnik, die ja die Zivilisation und deren Verbesserung schon im Namen trägt, für die Gesamtgesellschaft einzuordnen? Sind es künstlerische Werke, wie es viele in der Architektenschaft gerne sähen, oder sind es abhängig erbrachte Dienstleistungen, ist es freies Unternehmertum oder gar prekäre Arbeit in unwürdigen Beschäftigungsverhältnissen, wie das die Gewerkschaft der Architectural Workers United behauptet? Bloß nicht! würden viele ausrufen. Auch wenn klar ist, dass Architekt*innen in ihrem Tun niemals den Grad an Unabhängigkeit erreichen können, wie er in der Kunst oder der Literatur möglich ist, geht schon der Begriff „Dienstleistung“ in der Architektur nach wie vor um wie ein Schreckgespenst – der Begriff Architektur-Arbeit sowieso. Beide werden mit der unvermeidlichen Sinnkrise des kreativen Geistes durch seine Reduktion auf profane, routinisierte Tätigkeiten identifiziert.
Dabei hatte Nikolaus Pevsner das Selbstverständnis der Moderne in einem Radiobeitrag 1961 wie folgt zusammengefasst: „Die neue Vorstellung war, dass Architektur, außer eine Kunst zu sein, auch ein Dienst an der Gemeinschaft ist. Dieser neue Sinn für soziale Verantwortung drückte sich im Prinzip des Funktionalismus aus.“ Tatsache ist, dass Architekt*innen, so würde Habermas sagen, in Praxiszusammenhänge eingebunden sind. Außerdem sind sie in der Ausführung ihres Entwurfs auf ganze Heerscharen anderer Menschen angewiesen, in der Zusammenarbeit im Büro, für die Statik, die Bauphysik, die HKLS-Planung, die Ausschreibung und viele andere Gewerke mehr bis hin zum Hilfsarbeiter, welcher der Maurerin die Ziegel reicht. Schon Viollet-le-Duc hat darauf hingewiesen, dass „ein Architekt (…) nicht in gleicher Weise als Eigentümer seiner Arbeit angesehen wird wie ein Maler in Bezug auf sein Bild; er besitzt sie nicht [...] und kann sie nicht aus dem Verkehr ziehen als wäre es ein Buch oder eine Statue“[2]. Genau das aber würden manche Architekten (bisher fast ausschließlich männliche) gerne. Meistens sind es solche, die anstreben jedes ihrer Werke sofort unter Denkmalschutz gestellt zu bekommen, um es vor den Launen der Gesellschaft, die es bewohnt, zu bewahren.
Dass Bauen ein Prozess ist, von dem der Entwurf und die Planung nur ein kleiner, wenngleich wesentlicher Teil sind, wird dabei offensichtlich vergessen. Anstatt den „Dienst an der Gesellschaft“ so zu begreifen, dass durch universal ausgebildete Architekt*innen verschiedenste Gedanken, Interessen und Notwendigkeiten zur Deckung gebracht und in gesellschaftliche Räume übersetzt werden können, wird versucht mit autokratischem Gebaren gestalterische Ideen bis ins letzte Ausführungsdetail durchzusetzen – auch wenn häufig genug das Wissen und Können von Fachleuten dagegenspricht. Dabei wäre die Einbindung der Menschen mit Praxiskenntnis schon in den Entwurfsprozess oft nicht nur wünschenswert und hilfreich, sondern würde auch zu besseren Ergebnissen führen.
Das Produkt dieses Prozesses, das fertige Bauwerk, kann zu Beginn auch der Architekt, die Architektin nicht kennen. Sehr wohl aber können sie der Gesellschaft ihre Dienste anbieten, um gemeinsam eine bessere Umwelt zu schaffen. Wer behauptet das Produkt schon im Vorhinein zu kennen, und eine Gesellschaft durch die eigene schablonenhafte Baukunst belehren will, ist ohnehin kein Dienstleister, sondern schon eher ein Vertreter.
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[1] Durch die Aufteilung des Studiums in Bachelor- und Master ist die Erfassung erheblich schwieriger geworden, alleine schon weil viele Studierende den jeweiligen Abschnitt an unterschiedlichen Universitäten in verschiedenen Ländern absolvieren
[2] Hélène Lipstadt, “Architectural Publications, Competitions and Exhibitions”, in: Eve Blau et al. (Eds.), Architecture and its Image: Four Centuries of Architectural Representation (Montréal: Canadian Center for Architecture, 1989), S 130.