In schönen bläulichen und erdigen Farben türmt sich ein künstliches Gebirge vor den Besucher:innen auf. Es teilt den Ausstellungsraum in zwei Hälften und gibt den Weg frei, lenkt den Blick auf ein übergroßes Buch, das Grimoire of the Possessed Mountains. Dessen Inhalt veranschaulicht, worum es grundsätzlich geht. Laut Begleitblatt nimmt die Gruppenausstellung den „juristisch, ideell und materiell ausgehöhlten Berg zum Anlass, um über Eigentum und Landschaft in Zeiten planetarer und neokolonialer Extraktion nachzudenken“. Blättern im handgemachten Buch sei absolut empfohlen.
Anhand von 17 Bergportraits wird im Buch beschrieben, wie der Mensch die Berge aus unterschiedlichsten Gründen und mit unterschiedlichsten Zielen hemmungs- wie skrupellos instrumentalisiert und verwertet. Als harmlose Art dieser Verwertung erscheint da noch das Narrativ der Erholung und der touristischen Nutzung. Es verspricht, dass die Berglandschaft sich positiv und beruhigend auf die Psyche und Physis von uns Menschen auswirkt. Obwohl auch dieses Narrativ z. B. im Nationalsozialismus zweckentfremdet und politisch verengt wurde, indem man es nur für ausgewählte Gesellschaftsgruppen geltend machte, wirkt es wie Zuckerguss, der das reale Desaster hübsch verdeckt und dieses trotzdem nicht ganz verbergen kann.
„Verbergen“ heißt, etwas, den Blicken anderer oder dem Zugriff anderer zu entziehen. Wäre ver-Bergen nicht angemessener? Eine legitime Assoziation, wenn man in einer Ausstellung steht, die das Berge-Besitzen veranschaulicht.
Man liest weiter: „Die Kriege der Zukunft können ohne diesen Berg nicht geführt werden. Er ist mächtig.“ Kringlerne, den Namen des Berges mit der Macht, muss man sich merken. Er wird künftig in Medien und in Debatten um eine geopolitische Neuordnung wohl öfter fallen. Er lässt sich als Manifestation aller Expansionsträume übermächtiger Staatsführer lesen. Dabei hört sich „Neuordnung“ so nett an. Gemeint ist aber die aggressive und exzessive Expansion auf allen erdenklichen Ebenen, und dafür braucht es massig Kriegsmaschinerie. Der Berg wird deshalb pervertiert und reduziert auf seine Funtkion als Kriegsmaterial.
Bleiben wir beim Buch, bei einem der 17 beschriebenen Berge und seiner gesellschaftspolitischen Dimension. Die Buchmacher:innen erzählen die Geschichte des Gemäldes „Der Watzmann“ von Caspar David Friedrich. Es ist eine Geschichte der Enteignung und viel zu später Entschädigung seiner ursprünglichen Besitzer. Friedrich selbst hat den Watzmann nie in Wirklichkeit gesehen, er übernahm Darstellungen anderer Maler. Immanuel Kant beschrieb, so wird weiter ausgeführt, in Kritik der Urteilskraft, 1790, „die Berge als jene Objekte, die ein ästhetisches Urteil hervorrufen. Die Erhabenheit der Natur bezieht sich auf deren Formlosigkeit, auf das Chaos, die Unordnung, Verwüstung, aber auch auf deren schiere Größe und das Absolute.“ Der Berg ist demnach sichere Bedrohung, die durch Distanz und Rationalität überwunden werden kann. Doch wer bestimmt, was Ordnung und was Chaos sind? Kants Begriffe der Rationalität und Erhabenheit schließen aus und werden von seinem Rassismus begleitet.
Bei Possessed Mountains spielt die räumliche Setzung der künstlichen, aus Gletscherflies gefertigten Berglandschaft im Ausstellungsraum subtil eine mahnende Übersetzerrolle. Als Abbild verweist sie Betrachtende auf eigene, individuell gespeicherte Bergerlebnisse. Rund 140 m² Gletschervlies wurden verarbeitet. Normalerweise wird dieses Textil im Juni auf Gletschern eingesetzt, um das Schmelzen zu verhindern, um dann im September nach dem Ende der Sommersaison wieder entfernt zu werden. Die Künstlerin und Bühnenbildnerin Paulina Semkowicz arbeitete direkt auf dem Gletschervlies und simulierte den Verlust eines kollektiven Gefühls. Schon jetzt steht die Arbeit auch für die Gewissheit, dass zeitnah die Simulation das Einzige sein wird, was vom Naturschauspiel eines Gletschers im Morgengrauen übrigbleibt. Ästhetisch schön ist die Landschaft. Hier wird Kritik in ein ansprechendes Objekt verpackt und das Thema sicht- und greifbar gemacht. Teile der Installation wird man am letzten Tag der Ausstellung kaufen können.
Minus sechs Zentimeter, das ist eine große Sache, oder? So behauptet es das Künstler:innen Kollektiv PARA mit ihrer Arbeit „Berge versetzen“. Das neutestamentarische Zitat im Titel weist schon auf satirische Überhöhung hin, die letztlich aber bitterernst gemeint ist. Die „illegal“ entwendete Spitze der Zugspitze wird in einem augenfälligen orangefarbigen Tresor aufbewahrt, solange, bis die kolonial geraubte Spitze des Kilimandscharo Massivs, des kilima ndjaro, an Tansania zurückgegeben wird. Was heute empört – der Diebstahl von Steinen – war Jahrhunderte lang etablierter Bestandteil europäischer Machtdemonstration und Aneignung. Und in einer von Normen und Wettbewerb bestimmten Welt entscheiden sechs Zentimeter über Prädikate wie „höchster“, „größter“ und „wichtigster“.
Mehr noch als eine ästhetische Referenz wird in Possessed Mountains die Verwendung der Berge als reines Produkt in allen erdenklichen Facetten thematisiert. Der politische Raum einer Grenze am Grat, der höchste Berg des Planeten Mars, dessen Minerale Ressourcen in Zukunft als erreichbare Wohlstandsabsicherung massiv auf wirtschaftliche Verwertbarkeit geprüft wird. Die immer wieder neu erdachte Ausbeutung von Erden und die damit einhergehenden nationalen Besitzansprüche verschieben den Blick auf neueste Nachrichten aus Grönland, Kanada oder China. Wie viel Prozent der für unsere gesamte elektronische und digitale Infrastruktur benötigten seltenen Erden sind in den Händen einer einzigen Nation? Richtig: 97 %. Das ist eine Abhängigkeit, die weitreichende Folgen hat und kaum mehr Alternativen zulässt.
Mit Possessed Mountains wird der lichtdurchflutete, t-förmige Ausstellungsraum des FORUM STADTPARKs zu einem Ort der denkwürdigen wie nachhallenden Einkehr, ganz ohne Brettljausn oder Kaiserschmarrn. Ein depressionsverdächtiges Echo nimmt man mit nach Hause. Die Zeit der ausgiebigen Rast und des Aufschauens aus dem eigenen Alltag ist ein Ausstellungsbesuch absolut wert. Und nach sorgsamer Durchsicht der acht gezeigten Werke geht man, mit einem Rucksack voller kritisch hinterfragter Bergszenen im Kopf. Man weiß dann schon, dass der nächste Wandertag völlig anders als alle bisherigen sein wird. „Nichts bleibt, wie es ist."