12/11/2014

Interview mit der Schweizer Ergotherapeutin Marianne Flückiger Bösch über Raum- und Zeitwahrnehmung bei Kindern.

Dieser Artikel erscheint im Rahmen des GAT-Fokus Architektur- und BaukulturvermittlungBis April 2015 werden mittwochs regelmäßig Artikel zum Schwerpunkt veröffentlicht und in einem Dossier gesammelt.

12/11/2014

Das Sensorium der Stiftung Rüttihubelbad in Walkringen stimuliert im Sinne von Hugo Kükelhaus (1900 – 1984) alle Sinne, um die Umwelt zu erfahren.

©: Bart Léon Van Doorn

Ergotherapeutin Marianne Flückiger Bösch

©: Marianne Flückiger Bösch

Die Räumliche Wahrnehmung und ihre einzelnen Komponenten. Grafik zum Artikel "Wenn ich gross bin, werd' ich Kapitän"? von Marianne Flückinger Bösch, aus der Zeitschrift „ergopraxis 10/09

©: Georg Thieme Verlag KG

Nach Grösse ordnen

©: Marianne Flückiger Bösch

Muster nach Grösse und Farbe ordnen

©: Marianne Flückiger Bösch

Spielplätze, auf denen Kinder ihre motorischen Fähigkeiten entdecken können, fördern die Entwicklung der räumlichen Wahrnehmung.

©: M. Schaffrath/ Bütikofer Schaffrath Landschaftsarchitekten

Erst wenn Kinder in der Entwicklung ihrer räumlichen Wahrnehmung Defizite aufweisen, fällt deren Wichtigkeit im täglichen Leben auf: wenn die Distanzen beim Fußball falsch eingeschätzt werden oder die kugeligen Kekse beim Backen unterschiedlich groß sind. Nicht nur die Handlungsfähigkeit der Kinder im Alltag ist dadurch beeinträchtigt, auch Verständnisprobleme im mathematischen Bereich können darauf zurückgeführt werden.

Marianne Flückiger Bösch setzt sich in ihrer Arbeit intensiv mit der Raum- und Zeitwahrnehmung von Kindern auseinander. Sie ist seit über 20 Jahren als Ergotherapeutin in Baden bei Zürich tätig. In ihrer Praxis, dem Mathehaus in Baden, wird Kindern mit Schwierigkeiten in der Entwicklung dieser Fähigkeiten geholfen.

Wie entwickelt sich der Raumsinn eines Kindes?
Die sieben Körpersinne werden bereits im Uterus ausgebildet. Der Körper- und Bewegungssinn entwickelt sich in den nächsten Lebensjahren weiter- über die Körpernähe, wenn das Kind herumgetragen wird, dann später, wenn es vom Liegen ins Sitzen und vom Sitzen ins Krabbeln und später ins Aufstehen kommt. Die Eigenbewegung im Raum ist ein zentraler Lernfaktor. Man erfährt dadurch einen Gegenstand von verschiedenen Seiten und kann ihn zudem visuell erfassen. Durch Wahrnehmung und Bewegung lernt das Kind den Raum in den drei Raumdimensionen Fläche, Höhe und Tiefe kennen. 
Das Kind lebt in den Vorschuljahren in einer magischen Welt, die nicht operativ ist. Es denkt lange Zeit nicht in Ursache und Wirkung, sondern ist einfach im Moment. Erst später kann das Kind auch einen Perspektivenwechsel einnehmen und aus seinen Erfahrungen sich etwas von einer anderen Seite vorstellen. Ab ungefähr acht Jahren begreifen Kinder die dreidimensionalen Achsen des Koordinatensystems und können gedanklich damit probehandeln.

Offensichtlich beeinflusst Raumwahrnehmung mathematische Fähigkeiten, ist das richtig?
Kinder, die in Mathematik Schwierigkeiten haben, haben parallel dazu oft Schwierigkeiten im räumlichen Denken oder können generell Strukturen nicht gut erfassen. Ein mathematisches Verständnis baut auf das Erkennen von Mustern und Regelmäßigkeiten, Beziehungen und Strukturen auf. Diese wunderbaren Muster, die wir aus dem Orient kennen, nehmen Kinder mit Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen oft nur schwer wahr. Es ist, als hätten sie kein Bedürfnis, Muster und Gesetzmäßigkeiten weiter zu denken. In unserer Arbeit entwickeln diese Kinder diese Fähigkeit. Ich denke, Mathematik ist wichtig, um die Welt verstehen und ordnen zu können.

Wie kann man auf die Empfindungen des Kindes, auf seinen Raumsinn eingehen?
Farbe und Stoff, Gestaltung und Licht wie auch der Umstand, ob man vom Fenster aus ins Grüne sieht, spielen eine Rolle. Ich empfinde es als unangenehm, wenn es für alles einen Knopf gibt, wenn kein Fenster mehr von Hand zu öffnen ist und die Storen automatisch den Raum verdunkeln, wenn die Sonne zu hell ist.
Für Kinder im Kindergartenalter ist der Hüttenbau elementar. Sie möchten etwas bauen, in das man hineinschlüpfen kann, das abschließbar ist und eine Nische schafft. Man kann es als ein vorhandenes genetisches Programm bezeichnen, das Kinder auf der ganzen Welt haben. Menschen suchen sich ja immer Plätze, an denen sie sich zurückziehen können.

Wie kann die kindliche Wahrnehmung in der Entwicklung unterstützt werden?
Kinder brauchen Anregungen, um lernen zu können. Der Werkunterricht oder gestalterische Fächer haben in diesem Zusammenhang einen großen Wert, da Kinder lernen, mit verschiedenen Materialien zu arbeiten und damit zu gestalten. Das kann auch in Projektwochen geschehen, die alle Fächer miteinbeziehen. Dadurch lernen sie, einem Sachverhalt richtig auf den Grund zu gehen und ihn zum Abschluss zu bringen. Ein Kind, das handlungsfähig ist und seine Umgebung durch größere,  handwerkliche Projekte gestalten kann, wird dadurch auch besser im Abstrahieren und Planen.

Welche Möglichkeiten wünschen Sie sich in einer Architektur für Kinder?
In Kindergärten oder Schulen suchen Kinder in der Anlage immer ihre eigenen Wege, die weder vom Landschaftsarchitekten, noch vom Architekten geplant wurden. Das sind die „Trampelpfade“, die die Planer, die Gestalter, oft nicht so vorgesehen haben. Die Möglichkeiten für solche „Geheimwege“ sollten nicht verbaut werden. Schulhäuser sollten Orte sein, in denen die Vielfalt im Kind angeregt wird, wo sie mitgestalten können. Es ist wichtig, dass wieder Neues entstehen kann, nicht alles statisch ist. Vielleicht kann man ja Gelegenheiten schaffen, mit Künstlern zusammen Spielorte zu gestalten.

Interview mit Marianne Flückiger Bösch in ihrer Praxis in Baden vom 19.07.2013 und 10.08.2013.



Wie Architektur gestaltet werden kann, um die Entwicklung der Raumwahrnehmung von Kindern zu unterstützen (
Hinweise der Ergotherapeutin)

  • Muster und Strukturen in der Gestaltung verwenden: sie helfen, die Wahrnehmung zu schulen
  • Möglichkeiten, die Umwelt zu manipulieren, Kinder handlungsfähig machen durch z.B. eigenständiges Öffnen der Fenster, Türen, Veränderbarkeit von Schulräumen
  • Kinder in der Gestaltung mitwirken lassen 
  • Nischen und Rückzugsmöglichkeiten (Nischenerfahrung) schaffen
  • mehrere Wegmöglichkeiten zu denselben Räumen anbieten (auch durch Leitern, Treppen, Hintereingänge)
  • Gestaltung in optischen wie auch haptischen Qualitäten – hohe Dichte an Sinneserlebnissen


Referenzen, Quellen zum Nachlesen – empfohlen von Frau Flückiger Bösch:

  • Ergotherapie Mathehaus: www.mathehaus.ch 
  • Architektur der Sinne: Hugo Kükelhaus, deutscher Künstler und Pädagoge (1900-1984)
  • Jean Piaget, Entwicklungspsychologe und Epistemologe aus Genf (1896-1980 )
  • Professor Remo Largo, Kinderspital Zürich: „Babyjahre“. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren (1993 erschienen)
  • Félicie Affolter, Schweizer Logopädin, Psychologin, Psychotherapeutin (Nischenerfahrungen); arbeitete mit Jean Piaget (siehe oben)
  • Eine Schule mit Erlebnisqualitäten für alle Sinne: AHA- Schule, Stetten, Schweiz: www.ahaschule.ch
  • Spielplätze mit Erlebnisfaktor mit Erkenntnissen aus der Wahrnehmung von Kindern: No risk no fun – Abenteuerspielplätze: www.norisk-nofun.ch
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