19/06/2009
19/06/2009

Das Berliner Archiv der Jugendkulturen befasst sich seit seiner Gründung im Jahr 1998 mit den unterschiedlichsten Strömungen und Ausformungen der Jugendkultur. Neben Forschung, Publikationen zum Thema und einer umfassenden Sammlung von Originalmaterial wie Fotos, Fanzines oder Flyers führt das Archiv mit Mitteln der öffentlichen Hand seit Jahren eine Vorzeigeveranstaltungsreihe für Jugendliche durch:

"Culture on the road" - ein Projekt für Toleranz und Antirassismus

In deutschlandweiten Workshops für Schulen, Jugendzentren und Lehrstätten können sich Jugendliche unter anderem als DJs versuchen, dürfen offiziell Wände besprühen oder lernen, wie man „hot rappt“ oder „cool skateboardet“. „Culture on the road“ hat das Ziel, über alle ethnischen und sozialen Grenzen hinaus Vorurteile abzubauen und somit xenophoben und rechtsradikalen Tendenzen entgegenzuwirken. Mit Workshopleitern, die häufig selbst aktiv zur jeweiligen Szene gehören, ist entsprechende Praxisnähe und Enthusiasmus gewährleistet.

Wie in vielen anderen Großstädten auch wächst in Berlin in manchen Stadtteilen der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund überproportional. Eine der Schulen mit einem sehr hohen Anteil ist die Dag-Hammarskjöld-Oberschule in Tempelhof-Schöneberg. Mit einer engagierten Deutschlehrerin wurde im Rahmen der „Culture on the Road“-Reihe nun erstmalig eine Schreib- und Fotowerkstätte ins Leben gerufen. In diesem Rahmen haben zwölf sechzehnjährige Schüler aus über zehn verschiedenen Nationen statt dem Schulunterricht gemeinsam mit Anja Tuckermann, einer seit zwei Jahrzehnten auf Jugendthemen spezialisierten Autorin, mit Guntram Weber, einem auf Lesewerkstätten versierten Theater- und Drehbuchautor und dem Fotografen Jörg Metzner in zwei Wochen selbst Geschichten und Fotos zu ihren Lebenswelten erarbeitet. Die beeindruckenden Ergebnisse wurden vom 6. Mai bis 6. Juni 2009 in der Ausstellung „Auf dem Sprung“, im Archiv der Jugendkulturen präsentiert. (Über die Verlinkung am Ende dieser Seite gelangen Sie zur Bilddokumentation der Ausstellung.)

Nachfolgend zwei Textkostproben:

BIRKAN DÜZ
Ich bin Birkan
Ich bin in Berlin geboren und bin 16 Jahre alt.
Manchmal bin ich Deutscher.
Manchmal bin ich Türke.
Manchmal bin ich Kurde.
Manchmal bin ich Alevite.
Manchmal bin ich Zaza.
Wenn ich in der Türkei bin, sage ich den Menschen dort, dass ich ein Deutscher bin.
Wenn ich in Deutschland bin, sagen die Menschen zu mir, dass ich ein Türke bin.
Oder ich sage, dass ich ein Türke bin.
Unter kurdischen Freunden sage ich, dass ich ein Kurde bin.
Wenn ich unter Aleviten bin, sage ich, dass ich Alevite bin.
Wenn ich unter Zazas bin, sage ich, dass ich Zaza bin.
Wenn ich unter Deutschen bin, fühle ich mich anders.
Ich fühle mich als Türke dann.
Wenn ich unter Türken bin, fühle ich mich als Deutscher.
Wenn ich unter Kurden, Aleviten, Zazas bin, fühle ich mich gleich mit denen.
Wenn ich alleine bin, fühle ich mich als Alevite.
Wenn ich alleine bin, fühle ich mich als Birkan.
Wenn ich unter Deutschen, Türken, Kurden, Aleviten, Zazas bin, fühle ich mich wie ich.
Ich bin Birkan.

SARAH CHARIF
Meine Familie
Also hier in Berlin sind wir leider nicht so viele Familienangehörige. Wir sind so um die 150 bis 200 Personen, die noch nicht mal alle in der Nähe wohnen. Ein paar wohnen in Spandau, Wedding, Neukölln, Kreuzberg, Schöneberg und in Tempelhof. Wir sind eine Riesenfamilie.
Das waren jetzt die, die in Berlin wohnen. Die in Deutschland noch wohnen, gibt's einmal welche aus Wuppertal, Frankfurt, Köln und in Hamburg. Aber das war's noch gar nicht, wir haben auch viele Familienangehörige in verschiedenen Ländern wie in Jordanien, Libanon, Palästina, Bulgarien, London, Dubai, Schweden, Dänemark, Amerika und in Afrika. Meine Oma, die in Jordanien lebt, die Mama meines Vaters, hat elf Kinder und insgesamt 56 Enkelkinder. Und Gott sei Dank sind alle gesund.
Mein Opa ist leider schon sehr früh gestorben, weil ihn ein Israeli erschossen hat, ich konnte ihn leider nie kennen lernen, weil er im Libanon erschossen wurde. Er hat von seinen Enkelkindern nur 29 gesehen, der Rest der Kids kam erst später auf die Welt. Meine andere Oma, die im Libanon wohnt, hat 13 Kinder, einen Jungen und zwölf Mädchen, und insgesamt 43 Enkelkinder. Der Jüngste ist noch nicht auf der Welt und zum Glück sind auch hier alle gesund und meine Oma hat sie auch alle gesehen.
Was aber sehr traurig ist, ist, dass unsere Familie noch nie zusammen und vollkommen zusammen saß. Das ist der letzte Wunsch meiner Oma, sagt sie, bevor ich mich bald von euch verabschiede. Ich als 16-jährige würde ihr echt den Wunsch erfüllen, nur leider wird das nie klappen, weil manche keinen Pass zum Fliegen haben. Daher hab ich keine Chance, aber die Hoffnung werde ich nie aufgeben. Meine Familie ist das Beste, was mir je passiert ist, darauf bin ich echt stolz, auch wenn ich manchmal sauer war. Letztendlich ist es meine Familie.

Das Archiv der Jugendkulturen ist als Verein konstituiert und finanziert sich aus öffentlichen Geldern, dem Verkauf seiner Publikationen und aus Mitgliedsbeiträgen. Für Interessenten an einer Mitgliedschaft oder an Publikationen näheres unter http://www.jugendkulturen.de/

KONTAKT:
Archiv der Jugendkulturen e.V.
Fidicinstraße 3, D-10965 Berlin
T 030/69 42 934
archiv@jugendkulturen.de
Öffnungszeiten: Mo-Fr 10.00-18.00 Uhr
und nach Vereinbarung

Verfasser/in:
Emil Gruber, Bericht
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16. + 17.11.2023
 
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