26/08/2025

Es ist ein wahres Schwergewicht. Nicht nur wegen seines imposanten Formats (von 24,7 x, 30,5 cm) und seines Umfangs von 416 Seiten. Anatomie einer Metropole. Bauen mit Eisenbeton in Wien 1890-1914 ist vor allem ein inhaltlich bemerkenswertes Buch, mit neuen Erkenntnissen zum Netzwerk der Protagonisten und zur zeitlichen wie räumlichen Dichte in der Anwendung der neuen zukunftsweisenden Technologie.

26/08/2025

Betonierung der Moniergewölbe über dem Wienfluss unterhalb der Elisabethbrücke, Foto: Verlag R. Lechner (W. Müller), 1898

©: Wien Museum Karlsplatz

Blick in das Dachgeschoß des Wiener Bankvereins im Rohbau, um 1911, Privatsammlung, Reprofotografie: TimTom

Marianne Strobl (1865 - 1917), Schuhfabrik Sucharipa, Kaiserstraße, 1911/12

©: Wien Museum Karlsplatz
©: Birkhäuser Verlag

In fesselnden Beiträgen zusammengefasst eröffnen sich als Ergebnis einer akribischen forensischen Forschungsarbeit die Anfänge der konstruktiven Möglichkeiten, durch Entwicklung und Einsatz eisenarmierten Betons – heute Stahlbeton – im Wien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Herausgeber Otto Kapfinger betraute kompetente Autorinnen und Autoren mit zahlreichen Beiträgen zu einer präzise recherchierten Architekturgeschichte einer blühenden Millionenstadt. Anhand ausgewählter Bauwerke eröffnen sich viele spannende Informationen zu deren Eigentümern, Ermöglichern, Erbauern und Architekten.

Blick unter die Oberfläche

Das Buch startet mit Otto Kapfingers Beitrag "Systeme der Stadtentwicklung": Es beginnt 10 Jahre vor 1900, in jenen Jahren, als Wien plötzlich Millionenstadt wird (Anm.: 1910 hatte Wien 2,08 Millionen Einwohner:innen, www.wien1x1.atund ein neues Skelett benötigt, eine Versorgungsstruktur, einen neuen Apparat aller Kreisläufe. Und an diesem Beginn ganz großer Infrastrukturinvestitionen, die technologisch auf dem Letztstand der Zeit sind, ist da eine neue Technologie, der armierte Beton, der sich auf den zahllosen riesigen Baustellen als äußerst praktikabel erweist. Es entstehen kilometerlange Tunnels und Brücken, Straßenbahntrassen, Kanäle, Regulierungen existierender Flüsse – alles in der neuen Betontechnik. Und dieses Knowhow wird um 1900 im Hochbau für den nächsten Schritt eingesetzt.
Erstmals verschränken sich die Nutzungen, neben- und übereinander finden sich Wohnen, Gewerbe, Industrie, Cafés, Variétés und Kinos, Geschäfte, Lager und Werkstätten. Allein von 1907 bis 1914 entstehen in Wien 150 Kinos, zahllose Theater- und Veranstaltungssäle, die meisten davon in Neubauten, wobei die neue Bautechnik dazu benutzt wird, in den Untergeschoßen, weit gespannte Räume zu schaffen, und darüber bis zu sieben Stockwerke hochzuziehen. Der Betonskelettbau erlaubt es, neben den Geschoßdecken auch die inneren Stützen sowie die Fassade aus Beton zu fertigen, größere Nutzlasten und Spannweiten mit weniger Material zu bewältigen. Große Fensteröffnungen über alle Geschoße maximieren somit auch den Tageslichteintrag.

Was diese architekturpublizistische Neuerscheinung besonders auszeichnet, ist neben einer präzisen Untersuchung baulicher Merkmale vor allem auch der gelungene Versuch, tiefer unter die Oberfläche zu blicken. Das Ziel war nicht nur, die Architektur an sich zu zeigen und zu beforschen, sondern an die Quelle zu gehen, herauszufinden wer, mit welcher Absicht, mit welcher Intention gebaut und wer in den Häusern gelebt oder gearbeitet hat, und so der jeweiligen Baugeschichte auf den Grund zu gehen. Unser Anspruch war es nicht nur auf die Formen und Konstruktionen zu schauen, sondern auch Sozialgeschichte zu erzählen, so Kapfinger.

Das Buch als Stadt

Im Fokus steht die Stadtstruktur, also die Anatomie der damaligen K.u.K. Reichshauptstadt Wien. Die übersichtliche Gliederung erlaubt es von einer streng chronologischen Lektüre abzuweichen. So wechseln mehrseitige Essays, die an die Thematik heranführen, einander mit einem zugehörigen kompakten Katalogteil ab, unterbrochen von drei mehrseitigen Bildstrecken – Panorama I bis III – mit von Studierenden der TU Wien erstellten Schnitten und Grundrissen bzw. großformatigen Farbfotografien von Wolfgang Thaler und Bruno Klomfar über den aktuellen Zustand der untersuchten Bauten. Inmitten des streng schwarzweiß gehaltenen historischen Materials holen die ganzseitigen farbigen Fotostrecken den Lesenden in die Aktualität zurück und werden gleichzeitig zur dringenden Einladung, bei einem Stadtspaziergang die heute noch existierenden Bauten selbst näher zu betrachten.

Die ersten siebzig Seiten geben eine Einführung in die damals brandneue Bauweise, die Wiens Erscheinungsbild revolutionieren sollte, und Motor für die Entfaltung Wiens um 1900 zur modernen Großstadt wurde, in der eine ganze Reihe multifunktionaler Bauwerke entstand. Themen wie die Pionierrolle Wiens in der Entwicklung moderner Betonbaustrukturen für die Stadtentwicklung, die Entwicklung des Eisenbetons im internationalen Vergleich, der Bauboom des Kinos als neue Typologie und eben der soziale Aspekt werden näher betrachtet. Im darauffolgenden umfangreichen Katalogteil folgt eine ausführliche Dokumentation 95 exemplarischer Bauten, gegliedert in unterschiedliche Bautypologien und begleitet von Ansichten und Plänen, Angaben zu Entstehungszeit, Bauherr, Architekt, ausführender Baufirma, zu Eisenbetonkonstruktion und Statik, also zu jenen, die gebaut, beauftragt, entworfen und ausgeführt haben. Ein jeweiliger kurzer einleitender, leicht lesbarer Erläuterungstext führt in die bauhistorische Bedeutung des Bauwerks ein. Wer an dieser Stelle innehalten möchte, hat jedenfalls bereits einiges Allgemeines über Nutzungszweck und bauliche Charakteristika erfahren. Wer Lust auf mehr bekommen hat, wird mit bislang meist unbekannten detailreichen Informationen zum jeweiligen Objekt reich belohnt. Ergänzt wird jeder Katalogeintrag durch Literaturangaben.

Zur Entstehung dieses Buches führten die Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das – wie Otto Kapfinger anmerkt – durch Zufall entstand. Bei einem Spaziergang im Oktober 2016 durch den 6. Bezirk entdeckte er die für einen Umbau bis auf das Eisenbetonskelett entkleideten Geschoße eines Wohn- und Geschäftshauses in der Schadekgasse 18. Der freie Blick auf die nackte Struktur beflügelte seine Idee, an dieses Beispiel anknüpfend eine Studie zu entwickeln über ein heute fast unbekanntes Wien um 1900, wo sich die strukturelle und formale Dialektik zwischen Skelett und Haut, Kern und Hülse auf hohem Niveau entfaltet hat.

Ein Schub nach vorne

Wir sprechen auch von der Intelligenz der Stadt, von den Gütern, die hier produziert wurden, ergänzt Otto Kapfinger, der angesichts der einst so dynamischen Entwicklung Wiens, ins Schwärmen gerät, wie etwa am Beispiel des damals in der Innenstadt situierten Produktionsgebäudes der Druckerei Steyrermühl. Eduard Ast, der erste Bauunternehmer, der auf seinem Werksgelände mit verschiedenen Tragwerken Versuche macht, zeichnet für diesen ersten Hochbau in Skelettbauweise verantwortlich. Im Jahr 1899/1900 am Wiener Fleischmarkt errichtet produzierte die damals größte Privatdruckerei Wiens täglich 550.000 Zeitungsexemplare. Man fragt sich unweigerlich, wo befinde ich mich, in London oder in New York?, zeigt sich Otto Kapfinger von einem aus der Zwischenkriegszeit stammenden Foto der Fassade fasziniert: Durch die großen Fenster blicken Passanten direkt auf die Rotationsmaschinen. Ein unglaubliches Bild, das Bände spricht. Bis 1912 hatte die Druckerei Steyrermühl 10 Meter breite und 3 Meter hohe Fenster, ohne zwischenliegende Stützen, um ausreichend Licht in die Setzereien und Redaktionen zu bringen. Wir sehen das pralle Leben einer Stadt, dessen Geistigkeit hier in der Redaktion entfesselt wurde. Die Stadt produziert ihr Leben, die neuen Techniken erlauben die Schaffung ganz neuer Räume und Strukturen. Die große Stadtperspektive zeigt sich mit unglaublichem gestalterischem Raffinement.

Beton anzuwenden, hieß damals nicht, mit ungelernten Kräften, schnell zu bauen, wie das später zu beobachten ist. In der damaligen Zeit ist Beton noch kein Massenprodukt. Intelligente, weitblickende Leute, bauen nicht nur um Geld zu verdienen, sie wollen für die nächste und übernächste Generation weiterbauen, weiterdenken – das ist die Leistung der Gesellschaft dieser Zeit, sieht Kapfinger das Fazit der bisherigen Recherchen.
Und er wünscht sich, dass man aus einer genauen, akkuraten und engagierten Lektüre des vorliegenden Buches ablesen sollte, wie wir heute leben, und wie wir gescheit weitermachen können. Das ist die eigentliche Lehre aus dieser Arbeit. Ich betrachte die Stadt nun ganz anders – ich würde mir dies auch für die Leser und Leserinnen wünschen, und dass die Lektüre sie bereichern möge.

 


Otto Kapfinger (Hg.): Anatomie einer Metropole. Bauen mit Eisenbeton in Wien 1890-1914
Birkhäuser Verlag, Basel 2025, Deutsch, Harcover, 24,7 × 30.5 cm, 416 Seiten, 378 s/w Abb., 154 farb. Abb., ISBN 978-3-0356-2947-7

Autor:innen und Forschungsteam:
Gabriele Anderl, Otto Kapfinger (Leitung), Markus Kristan, Ursula Prokop, Werner Michael Schwarz, Felix Siegrist, Adolph Stiller, Stefan Templ, Michaela Tomaselli, Maria Welzig, Anna Wickenhauser.

Das Buch begleitet die Ausstellung „Eisenbeton. Anatomie einer Metropole“ im Wien Museum, die noch bis zum 28. September zu sehen. www.wienmuseum.at

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