07/10/2025

Am Beispiel des ehemaligen „Quelle-Versand-Kaufhauses“ an der Industriezeile in Linz geht Autor Christoph Wiesmayr auf die Suche nach analogen Werten des Digitalen. Im zweiten Teil seines Essays erläutert er, wie ökologische Reaktionen auf die Entmaterialisierung unserer Arbeits- und Produktionswelt aussehen könnten: Er fordert eine Umstellung vom Computer Aided Design (CAD) auf Animal Aided Design (AAD), um den Blick ins Grüne zurückzugewinnen.

Auf gat.news stimmt sein Essay thematisch auf die am 8.10. im HDA in Graz im Rahmen der Veranstaltungsserie Architektur der Stadt. Bücher, Filme und Gespräche: Eine Veranstaltungsreihe zu Fragen der zeitgenössischen Stadtstattfindende Diskussion „Über das Digitale und Analoge der Stadt“ ein. Der Text, ursprünglich im Magazin Treibgut, das unabhängige Hafenjournal #8 zusammen mit viel Bildmaterial publiziert, wird in 2 Teilen veröffentlicht. 

07/10/2025

Dachlandschaft auf dem alten Quellekaufhaus, Linz, 2024

©: Christoph Wiesmayr

Über die ganzen Sommermonate 2024 hinweg dauerten die Abbrucharbeiten. Am Ende blieb eine riesige Schotterwüste übrig, bis im Winter 2024–2025 aufs Neue mit Fundamentarbeiten begonnen wurde. Am Baumbestandrest an der Pummererstraße wurde bis knapp einen Meter vor den Baumstämmen ein Großteil des Wurzelstocks für die Baugruben der neuen Fundamente entfernt! Eine unsachgemäße Behandlung des Baumbestands, wie jeder Botaniker es bestätigen würde.

Grundsätzlich nimmt man an, dass der Wurzelbereich eines Baumes ähnlich groß ist wie die Baumkrone. Zum Überleben des Baumes benötigt er einen Großteil des Wurzelwerks. Leider haben die meisten Architekten keine Kenntnis, wie man zu dessen Erhaltung mit Baumbestand umgeht, oder es fehlt überhaupt der Wille oder das Interesse dazu. Gerade in Zeiten des Klimawandels sollte ein Baumbestand, besonders auch in Gewerbegebieten, von Bedeutung sein, um der Hitzeentwicklung in dicht verbauten Gebieten entgegenzuwirken. Bedingt durch die enge Auslegung des Flächenwidmungsplans mit der Monotonie der weitläufigen Nutzung als Industrie- und Betriebsbaugebiet werden Maßnahmen für standortgerechte Bepflanzungen nicht vorgesehen. Einzig ein Beschluss in den 1980er Jahren im Bebauungsplan bestimmt, im Gebiet bei Neubau von Gewerbebauten ein Gründach zu errichten. Sollten nach mehr als vierzig Jahren hier nicht auch längst schon weitere Verbesserungsmaßnahmen angegangen und umgesetzt werden? Leider plant und denkt man Gewerbe nicht mit Natur. Glatte und verglaste Oberflächen ohne Dachvorsprünge müssen mit hohem Aufwand an haustechnischem Beiwerk ausgeführt werden, um die Gebäudemasse zu kühlen. Die Abwärme der Klimageräte erwärmt zusätzlich die Außenluft.

Rodung Baumbestand am ehem. Quelleparkplatz

Zirka 25 Stück mehrjähriger Platanen wurden über Nacht im Sommer 2024 gerodet. Es waren keine Anzeichen über Baumschäden ersichtlich. Schade, dass die Planung für die neue Nutzung nicht auf den Baumbestand eingehen konnte. Wären die Bäume solitär in verglasten Innenhofeinheiten für natürliche Belüftung und Belichtung und als ansprechender Pausenraum für MitarbeiterInnen der beachtlichen Baumasse integrierbar gewesen? Die Bäume hatten über die Jahre eine stattliche Höhe erreicht und waren, wenn man im Sommer den Parkplatz querte, willkommene Schattenspender. Grundsätzlich hat ein Baum im versiegelten Industriegebiet keine optimalen Wuchsbedingungen – umso klimatisch bedeutender, wenn Bäume hier ihre Wuchshöhe erreichen können. Die durch die Rodung verlorene Biomasse stellt eine Herausforderung für zukünftige Artendiversität im Gebiet dar.

At the end – there is hope

Animal Aided Design (AAD) („tierunterstützende Gestaltung“) ist ein neuer Planungsprozess, der an der TU München entwickelt wurde und seit einiger Zeit auch in der Realität angewandt wird. Es werden unter anderem sogenannte „Artenpools“ von Tieren aus dem Planungsumfeld erstellt. Eine Zielartenauswahl dient als Grundlage für die zukünftige Bebauung. Zum Beispiel wurde die Außengestaltung von neuen Wohnsiedlungsprojekten mit speziellen Habitaten und Pflanzen auf die lokalen Spezies angepasst. Es ist eine für den Ort abgestimmte Planungsunterstützung, die im aktuellen Klimafondsprojekt „WORK ON BIODIVERSITY“ im Linzer Osten in Kooperation mit ansässigen Firmen prozesshaft entwickelt wird. Man möchte auch in fast gänzlich versiegelten Gewerbegebieten Anreize für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen für Tier und Mensch schaffen. AAD kann somit auch zukünftig eine wichtige Grundlage für EU-Nachhaltigkeitsberichte von Firmen sein.

Verlorene Industrieromantik auf Kaufhausdach

Die lange Zeit des Leer- sowie Stillstands brachte besonders auf dem Dach des Kaufhauses eine bezaubernde, wilde Spontanvegetation ans Tageslicht. Das Flachdach war unterteilt in einen großzügigen Freibereich mit Terrasse im Westen, ausgelegt mit Waschbetonplatten, in deren Fugen sich im Laufe der Zeit wilde Birken und Pappeln behaupten konnten. Im östlichen Bereich befand sich ein extensiv begrüntes Flachdach mit einer Vielzahl an niederwüchsigen Baum- und Strauchart sowie Sukkulenten wie Fetthenne oder Natternkopf, die eine Vielzahl an Insekten nach Pollen absuchten. Dazwischen eine Art Blechtonnen-Schutzdach, welches einen Freibereich überdachte. Hier herrschte ein Ensemble aus hochgewachsenen Königskerzen, Birken und alten Bürostühlen. Der Zauber der ruderalen Dachlandschaft inkludierte neben dem vorherrschenden Wildwuchs auch den weitreichenden Ausblick ins Gewerbegebiet zu den rauchenden Schloten der Chemie, den Hochöfen der Voest-Alpine Stahl AG und darüber hinaus bei guter Sicht bis zur Gebirgskette der Voralpen. Diese Kombination aus Wildwuchs und Industrie hat mich des Öfteren aufs Dach gelockt.

In der Zeit, zu der noch das Restaurant im Obergeschoss untergebracht war, konnte man einen Blick am Ende des Stiegenhauses durch eine Glastür auf die Dachfläche erhaschen oder bei Anfrage kurz das Deck betreten. Die Dachterrasse hätte sicher auch für temporäre Veranstaltungen genutzt werden können. Leider war mir das schwer möglich, da die gesamte Konkursmasse von Quelle von einer Zentrale in Deutschland aus gemanagt wurde und es vor Ort keine direkte Ansprechperson gab, um real Zugriff auf die Flächen zu bekommen. Nur ab und an kam ein Haustechniker vorbei, um Kontrollen oder Wartungsarbeiten in den stillgelegten Bereichen des Gebäudes durchzuführen.

Mich schmerzt es zu sehen, dass der vielfältige Pflanzenbestand auf dem Gründach, der über Dekaden hindurch angewachsen war, samt den Insekten und Vögeln mit einem Schlag verschwunden ist. Bedenkt man den Aufwand, der bei der Planung des Kaufhauses zur Umsetzung einer Dachvegetation mit speziellem Dachaufbau und Substrat samt passender Vegetation getätigt wurde – mit einem Mal vernichtet.

Dachpflanzen – Rettungsversuch
„strong wired plantroots on industrial rooftops – instead wireless in cyberspace“

Bei glühender Hitze und noch unmittelbar vor Abbruch des Gebäudes erntete ich im Sommer 2024 mit Erlaubnis der Baufirma Pflanzenbestand vom alten Kaufhausdach. Vermutlich schon einige Jahrzehnte wuchsen hier Pflanzen im mageren, maximal 10 cm hohen Dachsubstrat. Die Wuchshöhe der Bäumchen, hauptsächlich Birken und Pappeln, war gering, aber proportional dazu das Ausmaß der Wurzeln beachtlich. Pflanzenauswahl: Fetthenne, Natternkopf, Rostweide, Pappeln, Birken …

Die eingesammelten Pflanzen versuchte ich behutsam mit Wurzelstock und Substrat in Kisten zu packen. Versuchsweise setzte ich die Pflanzen in unmittelbarer Nähe auf unser Flachdach im Klimaoase-Garten. Dieses Jahr wird sich zeigen, ob ich die Dachpflanzen vom ehemaligen Kaufhaus retten konnte.

Was tritt an die Stelle einer entmaterialisierten Welt?

Im internationalen Vergleich zu anderen europäischen Städten, die mit Industrieleerständen zu kämpfen haben, ist es in Linz ein Glücksfall, dass es hier noch ansässige Betriebe wie Plasser & Theurer gibt, die Leerstände im Gebiet übernehmen können und damit den Wirtschaftsstandort stärken. Mit dem lokalen Know-how wie spezieller „Schweißtechnikverfahren“ und patentierter „Gleisstopfmaschinen“ hat sich Plasser & Theurer weltweit einen Namen gemacht.

100.000 Menschen pendeln täglich in die Landeshauptstadt. Die meisten davon arbeiten in der Voest-Alpine Stahl AG und in den Betrieben hier im Linzer Osten. Der Stau am Morgen und am späteren Nachmittag ist zur Gewohnheit geworden. Viele wohnen im Umland im Grünen, darunter viele Nebenerwerbsbauern und „Schichtler“. Die meisten fahren immer noch mit dem Auto zur Arbeit in die Stadt, um ihr Geld zu verdienen. Der Fordismus hat hier noch keine fruchtbare Alternative gefunden. Von der Stadtautobahn kommend verteilt sich der Verkehr hauptsächlich über die nord-süd verlaufende Industriezeile zu den Betrieben. Arbeiter und Bedienstete tauchen hier an der Industriezeile ein, in ein Grau-in-Grau von Zufahrtsstraßen, versiegelten Parkplätzen und Gewerbeobjekten. Es fehlt an menschenwürdigen Pausenräumen mit Bezug zu Grün.

Forderung nach einem gesunden und lebenswerten Arbeitsumfeld

Menschen arbeiten im elementaren Umfeld. Die Qualität ihrer Arbeits- sowie Lebensräume und deren Gestaltung haben Einfluss auf die Psyche und somit auf die Gesundheit der Menschen. Bereits um die Jahrhundertwende des ausklingenden 20. Jahrhunderts entwickelte Jakob von Uexküll das Grundgerüst der Biosemiotik, die Leben als biologische Zeichen- und Kommunikationsprozesse versteht. Er vertrat die Erkenntnis, dass weder Pflanze, Tier oder Mensch an dessen Außengrenzen enden und dass diese im Funktionskreis zur äußeren Umwelt wirken. Er führte den Begriff der Umwelt in die Biologie ein und gilt damit als Wegbereiter der Ökologie.

„Es gibt offenbar nicht die besondere Krankheit. Die immer besseren Untersuchungsmethoden ermitteln immer mehr und immer exaktere Werte des Blutes, der Leberfunktion, des Fettspiegels, des Zuckergehalts, des Herzrhythmus, der Nierenfunktion … dass Krankheit eventuell gar kein objektivierbarer Fall sein kann, sondern biographische Ursachen hat, die sich nur in solchen Werten ausdrücken, wird erst gar nicht hinterfragt.“ <Otl Aicher>

In der traditionellen chinesischen als auch japanischen Kultur wird der Mensch als gesamtheitliches Wesen verstanden. Dr. Qing Li ist Professor an der Nippon Medical-School. Er erforscht die Wirkung des Waldes auf das Immunsystem der Menschen. Eine wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 2016 bestätigt psychische Verbesserungen bei Menschen allein beim 10-minütigen Anblick auf intakte Waldumgebung. Die Ergebnisse der Befragung zeigten, dass das Betrachten der Waldumgebung das „angenehme“, „entspannte“ und „natürliche“ Gefühl mehr verstärkte als das Betrachten der Stadtumgebung.

Muss man nun aus der Stadt aufs Land fahren, um den gesundheitlich-positiven Effekt des Waldes zu erfahren, oder wäre das auch mitten in der Stadt oder im Gewerbegebiet möglich? Der Blick ins Grüne, der Zugang zu Gärten, angepasstes Licht, Ruhezonen: Auch die Ausstattung einer Klinik kann dazu beitragen, dass Patienten schneller gesund werden. Die Erkenntnisse dazu fließen nun zunehmend bereits in die Planung von Krankenhausbauten ein. Bereits 1984 konnte der schwedische Architekt Prof. Dr. Roger Ulrich in einer Studie in Science nachweisen, dass die Aussicht aus dem Krankenbett einen Einfluss auf das Wohl der Patienten hat.

Ein weiterer japanischer Forscher, Professor Miyawaki, entwickelte das Konzept des „Tiny Forests“. Es sind diese waldähnlichen Ökosysteme im Miniaturformat, die auf 200–800 m² großen Flächen im urbanen Umfeld nun weltweit gepflanzt werden. Die Miyawaki-Methode findet zudem immer mehr Nachahmer. Warum auch nicht eine Umsetzung direkt in Betrieben, anstatt von Robotern gemähtes Abstandsgrün? Es muss ja nicht gleich ein Wald sein. Baumgruppen in Innenhöfen und auf entsiegelten Parkplätzen, begrünte Parkplatzüberdachungen, begrünte Pausenräume, naturnah gestaltete Parkplatzsickermulden und vieles mehr können zu einer Aufenthaltsverbesserung der MitarbeiterInnen und der Biodiversität auf Betriebsgelände führen.

Inzwischen ist es uns vom Verein SCHWEMMLAND gelungen, mitten im Linzer Industrie- und Gewerbegebiet den ersten „Tiny-Forest“ auf 200 m² gemeinsam mit fachlicher Unterstützung von DI Peter Sommer anzulegen. Der Mikroauwald gedeiht seit Frühling 2022 in der “Klimaose” am Hollabereranwesen. Dieser kann auf Anfrage besichtigt werden.

________________
Textquellen Teil 1+2:
Otl Aicher; Analog und Digital. 1991; Ernst und Sohn, Verlag für Architektur, Berlin. ISBN: 3-433-02176-7
Weltweit Aufrüsten für den Frieden; Ausstrahlung, 21.2.2025, 21:20 Uhr | ORF 2
https://on.orf.at/video/14264359/weltweit-aufruesten-fuer-den-frieden-w…
https://www.researchgate.net/publication/312270232_Effects_of_viewing_f…

Bildquellen Teil 1+2: 
https://retroport.de/retro-kult-quelle-katalog/Constant Dullaart; FMR-Festivalbeitrag 2023
https://www.linzfmr.at/de/event/jennifer_in_paradise_liquify_linz
Dr. Qing Li; Forestmedicine, Shinrin Yoku; The art and science of forest bathing, penguin Random House UK

Hier geht's zum 
Nachrichtenarchiv 
und zum Kalender
 
 
Winter-
pause 
bis 7.1.2025
GAT