Die folgenden Ausführungen befassen sich mit der scheinbar nebensächlichen Frage, welchen Einfluss der Wohnbau auf das Gelingen bzw. Misslingen unserer Städte ausübt. Wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben, spielt mein Titel auf ein berühmtes Buch der Städtebautheorie an, das vor 63 Jahren erstmals erschienen und seither immer wieder neu aufgelegt worden ist. Es handelt sich um The Death and Life of Great American Cities, verfasst von der amerikanischen Journalistin Jane Jacobs. [1] Jacobs übt darin eine fundamentale Kritik am funktionalistischen Städtebau der Moderne und seinem Credo der Trennung der vier Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr. Denn dieser Städtebau betrieb eigentlich nicht Städtebau, sondern den Bau von monofunktionalen Wohnsiedlungen: Diese Anlagen mit zeilenförmigen, von reichlich Abstandsgrün umgebenen Wohnhochhäusern folgten den Prinzipien der autogerechten Stadt, die jede Fußläufigkeit, jede soziale Kontrolle, jede Adressbildung erfolgreich ausrottete und städtisches Leben entweder durch grenzenlose Langeweile oder permanente soziale Konflikte ersetzte. Erstaunlicherweise ist Jane Jacobs Buch in vielen Aspekten bis heute aktuell geblieben, denn trotz seiner weltweiten Bekanntheit [2] werden unzählige Sünden der Stadtplanung, die Jacobs darin anprangert, bis heute fröhlich fortgesetzt. Und diese Sünden betreffen in erster Linie unseren Umgang mit dem Thema Wohnbau.
Das beginnt bereits mit dem Begriff selbst. Wenn wir von Wohnbau sprechen, isolieren wir die Funktion des Wohnens und legitimieren damit bereits indirekt die Monofunktionalität dieser Typologie. Solche monofunktionalen Typenbegriffe sind nur für bestimmte Bauaufgaben reserviert, wie etwa den Schulbau, den Bürobau oder den Sakralbau. Niemand käme aber auf die Idee, von Einzelhandelsbau, Restaurantbau, Kaffeehausbau oder Fitnessstudiobau zu sprechen. Das hängt wohl damit zusammen, dass uns letztgenannte Funktionen selten als isolierte Gebäude, sondern meist nur als Teile größerer, multifunktionaler Komplexe begegnen. Vor 200 Jahren aber wäre einem der Begriff Wohnbau, der in seiner heutigen Bedeutung erst nach dem 1. Weltkrieg auftaucht, [3] genauso seltsam erschienen wie der Begriff Einzelhandelsbau. Das liegt daran, dass Wohnhäuser bis zur Industrialisierung nie nur bloße Wohnorte, sondern immer auch Produktions- und manchmal auch Distributionsorte waren: Wohnen und Arbeiten fanden unter demselben Dach, oft auch in denselben Räumen statt.
Die enge Verflechtung fundamentaler Funktionen des Lebens ist aber für unsere Vorstellung von Stadt immer noch grundlegend. Diese Vorstellung wurde im Wesentlichen im Mittelalter geprägt, als 90% der heutigen mitteleuropäischen Städte entstanden sind. [4] Auch wenn nur mehr ein sehr geringer Teil der Bausubstanz europäischer Altstädte aus dem Mittelalter stammt, besitzen deren Straßen und Hausstruktur und vor allem die funktionale Vielfalt immer noch einen mittelalterlichen Charakter. Es ist in erster Linie diese Struktur und nicht unbedingt das einzelne kunsthistorisch wertvolle Gebäude, die bis heute eine so große Anziehungskraft ausübt und alljährlich Millionen von Städtetouristen in Bewegung setzt. Diese Struktur der mittelalterlichen Stadt setzt sich aus folgenden fünf Elementen zusammen, die in den meisten Stadterweiterungen des 20. und 21. Jahrhunderts abhandengekommen sind:
- Primat des öffentlichen Raumes. Im Vordergrund steht nicht das einzelne Gebäude, sondern der öffentliche Raum. Dieser wird von außen durch die Stadtmauer, innen durch aneinandergebaute Häuserfronten umschlossen, die Straßen und Plätze als kompakte, durchgehende Innenräume unter freiem Himmel erscheinen lassen. [5] Man könnte die vormoderne Stadt wie eine Skulptur beschreiben: Ihr von der Stadtmauer und den aneinandergebauten Häusern umschlossene Freiraum erscheint als die eigentliche Positivform, die durch die negative Hohlform der Gebäude entsteht. Dieses Prinzip wurde in seinen wahrnehmungspsychologischen Folgen bereits vor knapp 50 Jahren von Rudolf Arnheim beschrieben [6] (Abb. 2, 3): Zwischen den Gebäuden einer modernen Wohnsiedlung mit isolierten Baublöcken fühlt man sich immer außen, in einer traditionellen Straße mit Blockrandbebauung immer innen und erst dieser Innenraum hat eine öffentliche Qualität.
- Blockrand. Aus dem Primat des öffentlichen Raumes mit innenräumlicher Qualität folgt daher zwingend die Blockrandbebauung als fundamentale städtebauliche Struktur, die nicht, wie irrigerweise immer wieder behauptet wird, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts darstellt, sondern schon existiert, seit es Städte gibt, also seit ca. 6.000 Jahren, und die man erst im 20. Jahrhundert aufgegeben hat.
- Die Straße als zentraler Lebensraum. Straßen und Plätze dienen nicht wie heute als weitgehend monofunktionale Verkehrsräume (oder ebenso monofunktionale Fußgängerzonen), sondern als die wichtigsten Aufenthalts- und Lebensräume der Stadt, wo alles Platz hat: Handel, Produktion, sozialer Austausch, Verkehr, religiöse und politische Manifestationen, Freizeit, Spielplatz von Kindern usw. [7] Die mittelalterliche Stadtstraße war immer schon ein „shared space“.
- Multifunktionale Häuser mit klarer Vorder- und Rückseite. Die einzelnen Häuser weisen eine klare funktionale Differenzierung auf. Zur Straße hin wird im Erdgeschoß Handel getrieben und in den Obergeschoßen gewohnt. Die kommerzielle Nutzung der Erdgeschoßzone trägt fundamental zur Belebung und Attraktivität der Straße bei. Von dieser öffentlichen Seite abgewandt sind die privaten Innenhöfe, die entweder kleineren Handwerksbetrieben als Produktionsstätten oder in Form von Gärten dem Obst- und Gemüseanbau und dem Halten von Nutzvieh dienen. Der private Garten ist als hortus conclusus immer vom öffentlichen Raum baulich klar getrennt. [8] In die Neuzeit übertragen, zeigen etwa die begrünten Innenhöfe der Grazer Gründerzeitviertel dieses Prinzip in vorbildlicher Weise – leider können sie oft nicht von allen Hausbewohnern genutzt werden. Aber der Zugang zu privatem oder gemeinschaftlichem Grünraum ist für den Wohnbau fundamental und die wirksamste Waffe gegen den ökologisch schädlichen Traum vom Einfamilienhaus im Grünen.
- Die Parzelle als Grundeinheit. Die Baugründe bestehen aus schmalen Parzellen, die sich im Privateigentum von meist jenen Personen befinden, die in den darauf errichteten Gebäuden auch wohnen und arbeiten. Daraus folgen eine attraktive, abwechslungsreiche Kleinteiligkeit des Straßenbildes, eine gesteigerte Verantwortlichkeit der Hausbesitzer für ihren Straßenabschnitt und ein daraus resultierendes dichtes Netz von sozialer Kontrolle. [9]
Nun wird gerne argumentiert, dass die Industrielle Revolution, das enorme Anwachsen der Städte zu Millionenmetropolen, die Entstehung eines städtischen Proletariats und einer arbeitsteiligen Gesellschaft und nicht zuletzt die Erfindung des Automobils dieser vormodernen Idylle den Garaus gemacht haben. Aber nichts ist falscher als das.
Lebendige Städte, die diesen Namen verdienen, gibt es selbstverständlich auch in der modernen arbeitsteiligen und motorisierten Gesellschaft. Allerdings benötigt sie dafür eine städtebauliche Struktur, welche die oben genannten Prinzipien der mittelalterlichen Stadt in die Gegenwart übersetzt. Ist dies gewährleistet, kann ihr auch der Autoverkehr nicht so viel anhaben.
Ein gutes Beispiel dafür liefert Jane Jacobs‘ Death and Life of Great American Cities, das im Wesentlichen auf Beobachtungen der Autorin im New York, Philadelphia und Boston der 1950er-Jahre beruht. Als heutiger Leser ist man von dem von ihr geschilderten engmaschigen und vielfältigen Charakter des Straßenlebens überrascht. Dieses Straßenleben in der von Jacobs bewohnten Hudson Street in Greenwich Village gleicht einer Bühne, auf der täglich ein „Bürgersteig-Ballett“ mit unzähligen Interaktionen zur Aufführung gelangt: Es beginnt, wenn sie morgens den Mülleimer hinausbringt und die vorbeilaufenden Schulkinder und die Händler beobachtet, die ihre Geschäfte öffnen, den Frisör, der seinen Klappstuhl vor die Tür stellt und dann die Hafenarbeiter, die sich in der Kneipe nebenan ein Bier holen. Mittags bevölkern Angestellte und Studenten die umliegenden Restaurants und Cafés, nachmittags flanieren die Einkaufsbummler und später die Teenager die Straße entlang, um später von Partygängern und Nachtarbeitern abgelöst zu werden. Die Anwohner und Lokalbesitzer pflegen lose, aber gutnachbarschaftliche Beziehungen, haben ihre Augen auf der Straße und sorgen, ohne es bewusst darauf angelegt zu haben, für deren Sicherheit. So hinterlässt die Nachbarin in der Kneipe nebenan den Wohnungsschlüssel für ihren Untermieter, wird einem Fremden, der sich offensichtlich verirrt hat, der Weg erklärt, oder einem Bewohner, der sich nachts beim Sturz durch ein Fenster verletzt, von einem vorbeikommenden Fremden beigestanden und die Rettung gerufen. Voraussetzung für dieses reichhaltige städtische Leben ist eine Erdgeschoßzone mit vielfältigem, attraktivem Angebot (Einzelhandel und Dienstleistungen), das von frühmorgens bis nach Mitternacht verschiedenes Publikum anzieht; eine kleinteilige, abwechslungsreiche Struktur mit breitem Bürgersteig, die für Fußgänger aller Altersgruppen attraktiv ist; und straßenbegleitende Blockrandbebauung, sodass Ladenbesitzer und Bewohner mit dem Straßenleben interagieren können und der öffentliche Raum eine klar definierte Rahmung erhält. Erst dann entsteht jene Bühne, auf der städtisches öffentliches Leben „aufgeführt“ werden kann.
All die von Jane Jacobs geschilderten Erscheinungsformen sozialen Lebens einer Großstadt schätzen wir bis heute in historischen Innenstädten, sei es in Rom, Istanbul oder Chicago. Es gibt auch genügend Beispiele aus jüngerer Zeit:
Obwohl fast die gesamte Architektur Mailands aus dem 20. Jahrhundert stammt, hat man sich städtebaulich an der vormodernen Blockrandstruktur orientiert und monofunktionale Wohnsiedlungen nur in den Außenbezirken zugelassen. Eine Straße wie etwa die ca. drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernte Via Belfiore wird von kontinuierlichen Fassaden aus den 1930er- bis 1970er-Jahren eingefasst, hinter denen in den Obergeschoßen gewohnt, im Erdgeschoß Handel betrieben wird (Abb. 4). Trotz der Dominanz des Autoverkehrs ist sie bis heute eine lebendige, städtische Straße mit Aufenthaltsqualität geblieben.
Allein für die aktive Mobilität wurde bereits ab 1970 die Studentenstadt Louvain-la-Neuve in Belgien angelegt (Abb. 5). [10] Schmale Parzellen, geringe Straßenquerschnitte von acht bis maximal 15 Metern (Abb. 6) und konsequente Nutzungsmischung sorgen für einen kompakten und am Fußgänger orientierten, lebendigen öffentlichen Raum, wie man ihn von historischen Altstädten kennt. [11]
Leider bilden diese gelungenen Beispiele echten Städtebaus bis heute die Ausnahme. Es scheint, als hätte man es sich bei der Planung von Neubauvierteln regelrecht zur Aufgabe gemacht, alles zu tun, um jeden Anflug städtischen Lebens im Keim zu ersticken:
Die erfolgreichsten Mittel dafür sind folgende: Erstens man plane möglichst breite Straßenquerschnitte, die dem Individualverkehr vier Spuren, dem öffentlichen Verkehr zwei Spuren, dem „ruhenden Verkehr“ zwei Spuren, den Radfahrern zwei Spuren, den Alleebäumen zwei Spuren und den Fußgängern zwei Spuren zuweisen, sodass eine Überquerung dieser Straßenmonster für Kinder und ältere Menschen zur Expedition wird.
Zweitens: Man vermeide tunlichst jede Form von Blockrandbebauung und setzte auf isolierte Baukörper ohne eine klare Vorderseite und Rückseite, sodass es keine Unterscheidung von öffentlichem und privatem Raum mehr gibt (Abb. 7). Sehr gut wirken hier die heute omnipräsenten „Durchwegungen“ und „Durchgrünungen“, welche die Trennung von privatem und öffentlichem Raum verunmöglichen und einen räumlichen Zwitter namens „halböffentlich“ hinterlassen, der keinerlei Nutzung zulässt.
Das Quartier 7 in Reininghaus in Graz z.B., von zwei renommierten Architekturbüros geplant und mit vier (!) Architekturpreisen ausgezeichnet, [12] zeigt sehr schön, wie die freigestellten Wohnblöcke weder einen öffentlichen Außenraum noch einen privaten Innenhof erzeugen können (Abb. 8): Geht man auf an sich öffentlichen Wegen durch diese Siedlung, beschleicht einen immer das unangenehme Gefühl, man würde in einen Privatgarten eindringen. [13]
Drittens plane man möglichst große Parzellen, die man dann gerne als „Quartiere“ bezeichnet, lasse sie von einem einzigen Wohnbauträger entwickeln und von einem einzigen Architekturbüro entwerfen. Dann plane man möglichst große Verkaufsflächen im Erdgeschoß, die entweder von Supermärkten oder noch besser von Großraumbüros gemietet werden, die dann sämtliche Schaufenster verkleben. Etwaige Fußgängerinnen und Fußgänger werden es sich bald abgewöhnen, an diesen tristen Fassaden entlangzuspazieren.
Die Ursachen für dieses geplante Scheitern zeitgenössischer Stadtplanung sind vielfältig und es ist unmöglich, sie hier alle aufzulisten. Neben der immer noch nicht überwundenen Ideologie der Funktionstrennung oder der Angst vor Enge und Dichte ist es vor allem das Geschäftsmodell Wohnungsbau, das sich negativ auf die städtische Entwicklung auswirkt. Durch die große Wohnungsnot nach den beiden Weltkriegen entstanden und entsprechend politisch gefördert, sind sowohl gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften als auch kommerzielle Wohnbauträger zu den Totengräbern des urbanen Lebens geworden. Wie beim mythologischen König Midas, dessen Berührung alles in Gold verwandelte, lassen Wohnsiedlungen überall dort, wo sie hochgezogen werden, das städtische Leben erstarren, und es ist dann sehr schwer bis unmöglich, dieses wieder in Gang zu bringen (Abb. 9). Nun kann man dies den Wohnbauträgern kaum zum Vorwurf machen – ausschließlich Wohnungen zu bauen ist nun einmal ihr Metier – , sehr wohl aber den Stadt- und Raumplanern, dass sie offensichtlich vergessen haben, dass ein funktionierender, lebendiger öffentlicher Raum nicht nur eine nette pittoreske Zutat darstellt, sondern für eine Stadt lebensnotwendig ist. Eine kommerziell oder öffentlich genutzte Erdgeschoßzone wird bei Wohnbauprojekten noch viel zu oft entweder nicht oder nur äußerst halbherzig geplant. Außerdem müssen wir im Ortsgebiet flächendeckend Tempo 30 einführen, denn bei Tempo 50 ist es nur logisch, dass sich die Häuser von der Straße als einer Quelle von Lärm, Dreck und Gefahr abwenden und den Passanten anstelle von ansprechenden Fassaden nur mehr ihr unansehnliches „privates“ Hinterteil mit Müllräumen, Tiefgaragenabfahrten und Laubengängen entgegenrecken. Erst wenn es gelingt, die Straße als öffentlichen Lebensraum zurückzugewinnen, können die Häuser dazu bewogen werden, sich wieder umzudrehen, eine öffentliche Vorderseite und eine private Hinterseite zu entwickeln und kann auch wieder qualitativer öffentlicher (bzw. qualitativer privater) Raum entstehen.
Das Ziel, dass die Straße in erster Linie den Fußgängern, in zweiter Linie den Radfahrern und erst in letzter Linie den Autofahrern dienen soll, ist mittlerweile weitgehend anerkannt, wenngleich man sich über den Weg dorthin noch lange nicht einig ist. Hier stellt sich aber die Frage: Reicht die Neuverteilung des öffentlichen Raumes und die Zurückdrängung des motorisierten Individualverkehrs zugunsten aktiver Mobilität aus, um die soziale Lebensfähigkeit der Stadt wiederzugewinnen? Häuser und öffentlicher Raum sind kommunizierende Gefäße und dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Erst wenn wir aufhören, monofunktionale Wohnsiedlungen zu bauen, die zum Leben einer Stadt nichts beitragen außer öde Langeweile, werden wir das Projekt Stadt weiterentwickeln können. Städte sind nicht nur die erfolgreichste Errungenschaft der menschlichen Zivilisation, sie ermöglichen letztlich auch die ökologischste Form des Wohnens.
mit der faust ins gesicht,…
mit der faust ins gesicht, und trotzdem die augen geöffnet.
Städtebau gibts schon lange kan mehr
Diesen Beitrag kann ich vollinhaltlich und fett unterschreiben !
der qualitativ gleichwerte Verbund von
BAURAUM
GRÜNRAUM
VERKEHRSRAUM
sollte das Ziel sein
Paradebeispiel wies eben net gehen sollte ist
DER COUP AM SEE "QUARTIER SEETERRASSEN"
STARKE SILHOUETTE, MAGISCHER TIEFGANG
selbsterklärend